Mittwoch, 2. April 2014

Printausgabe März 2014 / Tunnelblick

von Yasemin Rittgerott

Ich laufe diese Straße entlang, im Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Ich rieche die kalt warme Luft und den Rauch der ersten Grillfeuer im Jahr, die Frische einer lauen Sommernacht, das Chlor des Pools unserer Nachbarn, die nach wochenlangen Herbststürmen modrigen Blätter und die Reinheit der eiskalten Winterluft.
Mir wird bewusst, wie ich unbewusst all diese Gerüche jahrelang geliebt und in mich aufgesogen habe. Dieses Gefühl, wenn man vor die Tür tritt und mit geschlossenen Augen erkennt, welche Jahreszeit gerade ist.  Oder manchmal nur erahnen kann, wie wenn der Geruch vom Frühling nur schwach der Kälte trotzt.
Ich hätte nie gedacht, dass ich in diesem Moment nur spüren würde, wie die Luft in meine Lungen strömt. Ich hatte erwartet Familie, Freunde und die Höhepunkte meines Lebens noch einmal zu durchleben. Stattdessen gehe ich diese für mich so gewöhnliche Straße entlang und fühle dabei genau, wie sich jeder Muskel meines Körpers bewegt. Welche Kraft da eigentlich hinter dem Sog steckt, mit dem ich die Luft inhaliere. In diesem kurzen Augenblick durchlebe ich alle Jahreszeiten durch jeweils einen Atemzug. Viermal atme ich ein und aus. Und mit dem letzten Atemzug, dem letzten Mal ausatmen, ist es vorbei.

von Tassia Weimann

Ich bin alt. So alt, dass es okay ist zu sterben. Es wird nicht so sein, wie in meinen Albträumen. Kein Mörder, Einbrecher oder bösartiger Krebs wird mir das Leben nehmen. Ich werde nicht aufschrecken und merken, dass es nur ein Traum war. Denn es ist realer, wenn auch nicht so grausam. Ich werde im Bett im Kreise meiner Liebsten einschlafen und zu Gott kommen. Es ist okay. Ich bin jetzt 89 Jahre alt und bereit. Ich hatte ein schönes Leben, mit Höhen und Tiefen, wie man so gerne sagt.
Und ich drücke die Hand meiner Tochter, die mich mit glasigen Augen anblickt und lasse mich fallen.
Und das Fallen fühlt sich eher wie Schweben an. Wie damals als wir am See saßen und geraucht haben. Als uns alles egal war und wir uns so unendlich frei fühlten. Ich fühle mich vernebelt. Das Gefühl überrollt mich mit einer vollkommenden Zufriedenheit. Und ich fühle mich wie an dem Tag, als ich meine Liebe am Ende des Ganges stehen gesehen habe und halb über mein weißes Kleid stolperte. Oder als wir unsere Kinder das erste Mal ansahen. Oder als ich zum ersten Mal meine neue Heimat im Frühling erblickte mit rosa Kirschblütenblättern und lachenden Gesichtern. All die Momente, in denen ich so unsterbliche glücklich war, kommen in einem Gefühl zusammen.
Die Leute sagen, das Leben zieht an dir vorbei, wenn du stirbst. Aber das stimmt nicht. Es ist ein Gefühl. Ein Gefühl, das dich mit voller Wucht trifft und dir buchstäblich den Atem nimmt.
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