von Yasemin Rittgerott
Ich laufe
diese Straße entlang, im Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Ich rieche die
kalt warme Luft und den Rauch der ersten Grillfeuer im Jahr, die Frische einer
lauen Sommernacht, das Chlor des Pools unserer Nachbarn, die nach wochenlangen
Herbststürmen modrigen Blätter und die Reinheit der eiskalten Winterluft.
Mir wird
bewusst, wie ich unbewusst all diese Gerüche jahrelang geliebt und in mich
aufgesogen habe. Dieses Gefühl, wenn man vor die Tür tritt und mit
geschlossenen Augen erkennt, welche Jahreszeit gerade ist. Oder manchmal
nur erahnen kann, wie wenn der Geruch vom Frühling nur schwach der Kälte
trotzt.
Ich hätte
nie gedacht, dass ich in diesem Moment nur spüren würde, wie die Luft in meine
Lungen strömt. Ich hatte erwartet Familie, Freunde und die Höhepunkte meines
Lebens noch einmal zu durchleben. Stattdessen gehe ich diese für mich so gewöhnliche
Straße entlang und fühle dabei genau, wie sich jeder Muskel meines Körpers
bewegt. Welche Kraft da eigentlich hinter dem Sog steckt, mit dem ich die Luft
inhaliere. In diesem kurzen Augenblick durchlebe ich alle Jahreszeiten durch
jeweils einen Atemzug. Viermal atme ich ein und aus. Und mit dem letzten
Atemzug, dem letzten Mal ausatmen, ist es vorbei.
von Tassia Weimann
Ich bin alt.
So alt, dass es okay ist zu sterben. Es wird nicht so sein, wie in meinen
Albträumen. Kein Mörder, Einbrecher oder bösartiger Krebs wird mir das Leben
nehmen. Ich werde nicht aufschrecken und merken, dass es nur ein Traum war.
Denn es ist realer, wenn auch nicht so grausam. Ich werde im Bett im Kreise
meiner Liebsten einschlafen und zu Gott kommen. Es ist okay. Ich bin jetzt 89
Jahre alt und bereit. Ich hatte ein schönes Leben, mit Höhen und Tiefen, wie
man so gerne sagt.
Und ich
drücke die Hand meiner Tochter, die mich mit glasigen Augen anblickt und lasse
mich fallen.
Und das
Fallen fühlt sich eher wie Schweben an. Wie damals als wir am See saßen und
geraucht haben. Als uns alles egal war und wir uns so unendlich frei fühlten.
Ich fühle mich vernebelt. Das Gefühl überrollt mich mit einer vollkommenden
Zufriedenheit. Und ich fühle mich wie an dem Tag, als ich meine Liebe am Ende
des Ganges stehen gesehen habe und halb über mein weißes Kleid stolperte. Oder
als wir unsere Kinder das erste Mal ansahen. Oder als ich zum ersten Mal meine
neue Heimat im Frühling erblickte mit rosa Kirschblütenblättern und lachenden
Gesichtern. All die Momente, in denen ich so unsterbliche glücklich war, kommen
in einem Gefühl zusammen.
Die Leute
sagen, das Leben zieht an dir vorbei, wenn du stirbst. Aber das stimmt nicht.
Es ist ein Gefühl. Ein Gefühl, das dich mit voller Wucht trifft und dir buchstäblich
den Atem nimmt.
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