Donnerstag, 16. Mai 2019

Printseite Mai 2019: Im Dunkeln...

Foto von Merle Stephan (@merlestephan_)


von Lars Hybsz

Menora

Wenn es spät abends an der Haustür läutet, setzt ihr Herz aus. Die Zwischenwand dämpft den Klang und doch dringt er zu ihr und ihrer Familie in das Versteck vor. In der Wohnung geht jemand zum Fenster und blickt nach unten auf die Straße. „Einen Moment, ich komme runter!“, ertönt das vereinbarte Signal.Sie kauert neben ihrer Mutter, die gerade die Kerzen löscht. Im schmalen Raum steht allen die Angst ins Gesicht geschrieben. In der Dunkelheit versucht sie, ihren Atem zu beruhigen. Sie hört, wie unten die Haustür aufgeschlossen wird und versucht, sich zusammenzureißen. Schwere Stiefel poltern die Treppe hoch, dann wird die Wohnungstür aufgestoßen.Als die Männer vor ein paar Monaten schon einmal da waren, hat sich der Offizier an den Küchentisch gesetzt und eine Zigarette geraucht. Nach dem Verhör lud er die Tochter der Familie in die Schankwirtschaft an der Ecke ein. Seine Laune war bestens, es war ein schöner Frühlingstag und der Abend war ruhig und lau.Heute ist er erkältet. Er verflucht das Wetter, die Stadt und das besetzte Land. Wieder stellt er seine Fragen: Wann wurde die Familie zuletzt gesehen? Wohin könnten sie verschwunden sein? Sind sie vielleicht untergetaucht? Die Antworten werden genaustens dokumentiert und dann, nach einer Ewigkeit, wird endlich das Tintenfass zugeschraubt.Sie hört das Quietschen der Ledermäntel, als die Männer zur Wohnungstür gehen und der Offizier eine „Gute Nacht“ wünscht. Ihre Mutter wartet noch ein paar Minuten, ehe sie die Kerzen wieder entzündet. Das Bangen in der Dunkelheit hat vorerst ein Ende.

von Yasemin Rittgerott

Die Nacht hat viele Gesichter. Dabei sagt man, in völliger Dunkelheit sei man blind. Kein Licht lasse einen nichts sehen; doch ich sehe alles und spinne Gedankenfetzen zu einem schönen Garn.
..... Vom Dach der Grundschule deines Dorfes hat man freien Blick auf die Nacht und den Sternenhimmel hoch über unseren Köpfen. Wir plappern leise vor uns hin, aufgedreht, weil wir etwas Verbotenes tun und ich kann trotz der Dunkelheit das Funkeln in deinen Augen sehen.
..... Wir stehen dicht gedrängt in der Menge. Vorsichtig schiebe ich meine Hand in deine. Mit einem Grinsen in meine Richtung wird dein Griff fest.
..... Ich schaue auf meine staubigen Turnschuhe: „Ich bin so furchtbar unsicher, wenn ich mit dir zusammen bin.” „Ich bin doch hier bei dir, sagt das nicht alles?“
...... Neblig blau hängt der Rauch in der Bar, in der einen Hand hältst du deine selbstgedrehte Zigarette, in der anderen hältst du meine Hand
...... Mit angezogenen Beinen sitzen wir auf dem Bordstein und schweigen, während wir unseren Zigarettenrauch in die Nacht pusten.
..... Die Straßenlaterne vor deinem Fenster erhellt dein Gesicht und für einen kurzen Augenblick kann ich die Zerrissenheit in deinen Augen sehen.
..... Der Abspann läuft flimmernd im Hintergrund ab. In meinem Vordergrund bist du, der mich vorsichtig zum ersten Mal küsst und dann mit großen Augen fragend ansieht. Meine Antwort sprechen meine Lippen auf deinen.
..... Ich möchte keinen Moment verpassen, Schlaf scheint mir so unwichtig in diesem Moment, hier mit dir. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit und ich beobachte wie deine Brust sich gleichmäßig hebt und senkt. Dann lege ich genau dort meinen Kopf ab und du ziehst mich noch näher an dich und drückst mir im Halbschlaf einen Kuss auf die Stirn.
..... Der Himmel färbt sich grau und kündigt das Ende der Nacht an. Doch für uns ist es erst der Anfang. 

von Elina Göhrmann

Zum ersten Mal in deinem Leben sind die Jalousien hinuntergelassen, während du schläfst. Keine kleinen Lücken zwischen den Lamellen, kein dämmriges Licht durch die Vorhänge. Du kannst überhaupt nichts sehen, nicht einmal eine Kontur. Deine Augen wollen sich einfach nicht schließen, obwohl es keinen Unterschied macht. Sobald du sie zumachst, hörst du ein Geräusch – öffnest du sie, weißt du nicht mehr genau, ob es nicht nur einfach der Wind an deinen Jalousien ist. Du siehst schließlich nicht, ob sie sich bewegen. Statt Stille hörst du deinen eigenen Herzschlag, ein Rascheln von deiner eigenen Bettdecke, ein Brummen von draußen. Du möchtest schlafen, doch mit offenen Augen fühlst du dich selbst in dieser vollkommenen Dunkelheit sicherer zwischen all den vertrauten und nun doch unvertrauten Geräuschen. TicTacTicTac, macht deine Uhr. Wie viele Sekunden hast du schon mitgezählt? Da, ein Surren. Jetzt ist es wieder weg. Du stehst auf und gehst zu einem Fenster, tastest nach dem Band, ziehst die Jalousie ein kleines bisschen hoch. Die weiter entfernt stehenden Laternen scheinen zwischen den Lamellen hindurch und du gehst wieder zurück ins Bett. Ach, das Rascheln der Bettdecke und das Ticken der Uhr. Das eben war sicher ein Auto auf der Straße. Es dauert nur wenige Sekunden, dann schläfst du. Keine unbekannten Geräusche mehr.

von Katrin Dirscherl

Während du sprichst, lachst du. Ganz fein umspielen leichte Fältchen dein Gesicht und ich weiß, dass deine Zuhörer dir interessiert folgen. Du konntest sie schon immer mit deinen Worten fesseln, genauso wie mich. Vom ersten Tag an, als ich dich kaum kannte. Zu einer Zeit, die mir jetzt in unendlich weiter Ferne schien. Denn was die anderen nicht sehen, ist für mich umso klarer. Das fehlende Funkeln in deinen Augen, der heisre Unterton in deiner Stimme. Gestern Abend sahst du noch ganz anders aus, allein vor deiner Fensterfront. Mit dem Glas Rotwein in der Hand und den leicht violetten Lippen. Das einzige Licht – der helle Mond – in der sonst völligen Dunkelheit des Zimmers. Eine Dunkelheit, die du jeden Tag mit dir herumträgst, auch wenn draußen die nordische Sonne scheint. Dein Lächeln verschwindet, deine Stimme verstummt. Du machst eine theatralische Pause und unsere Blicke treffen sich. Du weißt, dass ich daran denke. An deinen Ausbruch gestern Nacht. Du willst, dass ich es vergesse. Weil ich die einzige bin, die dein falsches Lachen heute enttarnt. Die deine innere Leere kennt. Jetzt sprichst du weiter, hast dich wieder gefangen. Dir ist klar, dass ich schweigen werde, denn es ist ein Geheimnis zwischen uns. Dir, mir und deinen dunklen Gedanken.

von Jonas Gadomska

ch lege das Werk auf den freien Sitzplatz neben mir. Das dunkelgraue Buch wirkt einsam, gar verloren. Es liegt bewegungslos da. Ganz so, als würde es darauf warten, von mir in die Hand genommen und wenigstens durchgeblättert zu werden. Heute werde ich diese abendliche Routine durchbrechen. Mild triumphierend wende ich mich von ihm ab und schaue hinaus. Ich sitze eigentlich immer hier, denn warum sollte das Buch einen Fensterplatz bekommen? Produktiver wollte ich werden, trotzdem schaue ich jetzt stumm aus dem Fenster. Die leisen Gespräche bleiben konstant, das Licht wird leicht gedimmt: Der Zug fährt. Hinter den Spiegelbildern der Sitze und einiger  Passagiere, erkennt man das andere Leben. Das Leben außerhalb des Waggons. Dunkelgraue Gestalten vor leuchtenden Leinwänden: Rauchend vor der Balkontür. Streitend vor dem Küchenfenster. Lesend hinter der kleinen Dachluke. Was würden sie sehen? Mich, höchstwahrscheinlich, aber auch meinen Mitfahrer? Ich hebe das Buch hoch und halte es vor die Fensterscheibe. Ich sehe einen dunkelgrauen Umriss. Wirklich so fremd, wie die anderen? Ich senke meinen Kopf.
Ein in der Dunkelheit hellgrau erscheinendes Graffiti zieht an meinem Fenster vorbei. Meine Augen verfolgen es nicht. Abspann.
 

von Eva Mainusch

Der Display leuchtet grell vor meinen müden Augen auf und lädt die Nachrichten der letzten Nacht. Ich sehe deinen teuren Cocktail von gestern Abend, ich sehe deine neue Frisur. Alles wie immer.
Ich bin mit dir nach Lissabon geflogen, habe aufmerksam dein Auslandssemester verfolgt. Habe dir zugesehen wie du wieder ins Flugzeug stiegst und blicke nun auf deine Umzugskartons. Als deine Freunde und du mit eiskaltem Bier auf dein neues Zuhause anstoßen verziehe ich keine Miene. Ich tippe auf den rechten Rand des Bildschirms und weg ist dein strahlendes Lachen. Stattdessen jetzt das verschwommene Gesicht meiner Mitbewohnerin in unserer Stammkneipe. Später taucht dein markantes Profil nochmal auf. Dein Schatz freut sich riesig über euren großen Schritt und liebt dich. Dich mit deinen vielen Freunden, mit deinem tollen neuen Job und deinen Urlauben am Mittelmeer, mit den ausgelassenen Partys, deinem neuen Haarschnitt und euren besonderen Momenten zu Zweit. Wir alle teilen sie mit euch, wenn wir eure Gesichter auf dem matten Display betrachten, dir über die Schulter gucken. Nur dich sehe ich nicht, du bleibst im Dunkeln hinter deinen leuchtenden Stories. So oft ich auch schaue, ich erkenne dich einfach nicht.
 
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