Dienstag, 19. Juni 2018

Printseite Juni 2018 / Nahe und ferne (Herzens-)Orte


Foto: Hannah Springer


von Hannah Springer

Seufzend lässt sie sich nach hinten aufs Bett fallen. Die Schuhe nicht mal ausgezogen, den Koffer nur schnell in die Ecke gestellt, liegt sie da. Wieder ist ein Ausflug zu Ende gegangen. Eine neue Welt entdeckt und sie ist wieder Zuhause.
Immer noch liegend, tastet sie nach der kleinen Dose auf ihrem Nachttisch. Die Stecknadeln darin klappern, als sie mit den Fingern versucht den Deckel zu heben. Im Liegen klappt das weniger gut. Sie setzt sich im Bett auf und fummelt eine silberne Nadel mit blauem Kopf heraus. Immer wieder dreht sie sie zwischen Zeigefinger und Daumen. Hin und her… Eine Reise gespickt mit Highlights, mit unvergesslichen Momenten und Landschaften für dessen Anblick sie alle ihre Freunde beneiden werden. Eine Reise voller Highlights aus dem Reiseführer, gutem Essen und netten Menschen. Eine Reise ohne größere Probleme und doch waren das nur Orte. Sie drückt kraftvoll die Nadel in die Tapete, an der ihre Weltkarte hängt. Jetzt ist sie eine von vielen. Eine von vielen anderen Nadeln, die Orte zeigen an denen sie schon war. Und doch ist da nur eine, eine, die wirklich Wert hat. Eine, die einen Ort zeigt, der in keinem Reiseführer ausgeschildert ist. Nur sie kennt ihn, den Ort, den die einzige rote Nadel markiert.

von Julius Lütgemeier

Der Central Park ist eigentlich den meisten Menschen bekannt. Ein großes Rechteck aus Grün, wie ausgeschnitten und hineinkopiert in einen gigantischen Häuserblock, bekannt als New York City. Wenn man sich mit umliegenden Häusern von vielleicht nur einem Drittel der Größe zufriedengibt, bekommt man das gleiche Bild -zumindest aus der Luft- dort, wo vor einigen Wochen die ganze Welt nur Augen für ein Kleid hatte. Im Stadtzentrum Londons direkt nach Kontakt mit tausenden Unbekannten, Lärm, Stress und Fish/Chips den Bus verlassen und zack: Ruhepol. Der Hydepark ist einer der größten und schönsten innerstädtischen Parks der Welt. 4000 Bäume und ein riesiger See laden den Akku wieder auf, der nach Stunden des klassischen Touri-Programms rund um Bridge, Tower und Abbey schon an der Reserve kratzt. Denn auch ein „british accent“ zerrt an den Nerven, wenn man ihn tausendfach zu gleich hört. Wenn es jetzt noch regnet -nein, kein vom-Himmel-gießen, mehr ein sanftes Prasseln in den See, so dass die Oberfläche aussieht wie ein Feld aus Nadeln, dann kann man sich nur noch ins Gras setzen und versuchen, die Welt in sich aufzunehmen. Besonders, wenn das Ganze trotz Bekanntheit und Größe ein Zufallsfund war und man sich einfach wunderte, ob hier die Stadt schon zu Ende sei und die Hauptstraße direkt in einen Wald mündete. Es ist Herbst. Ein Eichhörnchen springt vorbei, raschelt über ein paar umherliegende Blätter und sucht seinen Baum. Einheimische mit Kinderwagen zücken schnell den Schirm und machen sich auf Richtung Ausgang. Während also alles vor der Gewalt im Himmel flieht, ist mein Alles das gerade hier. Ich habe meine Stadt gefunden. Mein Kopf ist ein Boot aus Papier und die Flut nimmt meine Seele.

von Yasemin Rittgerott

Rechts von mir erstrecken sich grüne Hügel, links von mir geht das Blau des Meeres scheinbar nahtlos in den Himmel über. Hier könnte ich ewig verweilen, mit weitem Herzen, die Szenerie in mich aufsaugend, glücklich. Auf dem Rückweg, durch kleine Gässchen schlendernd, vorbei an sich an den Hügel schmiegenden Häuschen, fühle ich mich angekommen. England hat mich geprägt, hier fühle ich mich heimisch, weit entfernt von meiner eigentlichen Heimat, freier, mutiger, selbstsicherer und auf eine ganz merkwürdige Art und Weise mehr ich selbst. Ich kann selbst nicht einmal sagen, woran das liegt.
Als ich die Insel nach meinem ersten langen Aufenthalt wieder verlassen habe, habe ich ein Stück meines Herzes dort zurückgelassen. Nach einigen weiteren kurzen und langen Trips bin ich mir sicher, dieses Stück ist genau dort, wo es hingehört.
Abends im Bett kneife ich die Augen fest zusammen und sehe wieder das Glitzern des Meeres vor meinem inneren Auge; ein wohliges Gefühl wärmt mich von innen. Denke ich in Deutschland ans Vereinigte Königreich, wird mein Herz ganz schwer und Sehnsucht macht sich breit. Meine Familie und Freunde halten mich hier und ich werde (sehr wahrscheinlich) niemals auswandern - sehr zur Freude meiner Mutter. Aber ich weiß, England wird immer da sein, bereit, mich zu erden, wenn ich wieder zu mir selbst finden muss und ich weiß, ich werde immer wieder zurückkommen, in dieses magische Land, das mich so sehr fasziniert, bereichert und dadurch pures Glück fühlen lässt.

von Tassia Weimann

Würzburg / dichtgedrängt am Main sitzen und Bier trinken / New York-Cheesecake-Donut von donutdreams / Freunde, die spontan vom Partyboot in den Main springen / stundenlange Monologe aus dem Herzen ohne sich schlecht fühlen zu müssen.
München / einfach Zeit mit dem Blondschopf ohne auf die Uhr zugucken/ Gemeinsamkeiten teilen und Neues erschaffen / in jeder Straße über die Schönheit staunen.
Peine / mit Freunden spießig und sesshaft werden, zurückkommen wollen / Vertrautes an jeder Straßenecke / Sammelpunkt für alle, die ausgeflogen sind / mit den Eltern im Garten sitzen / Boule in Wehnsen spielen / Fahrrad fahren (Flachland ist so super).
Hamburg / den Schlüssel hören, wenn du die Tür aufschließt / jeden Tag etwas Neues machen / deine Augen, wenn die Schiffe vorbeiziehen / unverpackt einkaufen / aber vor allem: du, immer du.
Sehnsucht ist ein Arschloch. Denn ich teile mich in mindestens vier Teile, will an jedem Ort gleichzeitig sein. Sehne mich nach den Menschen und wenn ich bei einem bin, sehne ich mich zum nächsten. Es ist nicht die Wanderlust, die mein Herz schwermacht, sondern die Tatsache, dass man immer das haben will, was man nicht haben kann. Euch. Alle an einem Ort. Damit wir alle in unseren neuesten Erinnerungen eine Rolle spielen.

von Mette Springer

Sie gehen in den Garten. Rufen ich solle mitkommen, doch ich bleibe. Vertröstet sie, denn mein Blick wird gerade nur von einer Sache angezogen. Es ist ein Buch, schlicht, in braunes Leder gebunden und doch gleichzeitig so viel mehr. Ich nehme es, lasse mich auf's Sofa fallen und schlage es auf. Ich blättere und blättere. Die Fotos verschwimmen vor meinen Augen. All die Erinnerungen und unterschiedlichen Orte. Jeder auf seine Art und Weise einmalig, doch alle wunderschön. Wenn man mich fragen würde, ich könnte nie im Leben sagen, welcher der Beste war. Der Strand auf Föhr, mit seiner Ruhe und weite, dass ich mich darin verlieren könnte? Oder vielleicht doch eher der kleine Ort Penzance in Cornwall, mit seinen süßen Häusern und Gassen? Ich grübel und grübel, aber finde keine Antwort. Als es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen fällt. Es sind gar nicht die Orte, die mir so sehr am Herzen liegen. Es sind die Menschen, die diese Orte mit mir geteilt haben. Die Menschen, die ich liebe. Ich schaue auf. Die Sonne scheint mir ins Gesicht. Ich muss lächeln, stelle den Fotoband zurück und gehe nach draußen zu den Anderen.

von Niklas Stuhr

 „Zuhause wird von Räumen, zu den Namen darin“, dröhnt es mir aus den Boxen entgegen. Vor ein paar Jahren noch als kitschiger Ansatz abgetan, wird einem nun immer mehr klar, wie viel hinter dieser Aussage steht. In einer Phase des Lebens, in der sich die Kerngruppe aus Jugendzeiten auf der ganzen Landkarte verteilt hat, erwisch ich mich immer öfter beim Sehnen nach alten Zeiten, Leuten und Orten. Nach und nach teilen sich Herzensorte auf. Zuvor noch das wochenendliche Zusammenkommen, wird nun alles zum Ort des Herzens, an dem sich das nostalgische Gefühl der Zusammenkunft in einem ausbreitet, durch welchen Auslöser das auch sein mag. Herzensort, wenn man alte Wegbegleiter trifft. Herzensort, wenn man Orte aus vergangenen Zeiten besucht und vielleicht auch persönlicher Herzensort, wenn man mit sich im Reinen ist, dass in emotionaler Nostalgie zu schwelgen nicht nur nichtsbedeutender Kitsch für alte Leute ist.

von Jonas Gadomska

Der Zigarettenrauch bahnt sich langsam seinen Weg durch die grünen Eisenstangen des Balkons. Getrieben vom warmen Wind des Meeres, dreht er mehrere Pirouetten, bis er seinen kurzen Tanz an der bröckelnden Hausfassade beendet und sich auflöst. Es ist zwar nicht das schönste Hotel, dennoch hat es eine umso schönere Aussicht. Hier, vom Balkon aus, habe ich den idealen Überblick: über die Menschen, welche die kleine Küstenstraße entlang schlendern, über die Pizzeria in der Kurve, welche die beste Calzone verkauft, über den Fischerhafen und das Meer. Ich rauche auf und drücke die Zigarette mit einer kurzen Drehbewegung im gläsernen Aschenbecher aus. Mein Kumpel räuspert sich. Ich drehe mich zu ihm und nehme nickend die von ihm angebotene Zigarre an. Unser kleiner Platz an der Sonne reicht gerade einmal für die beiden Plastikstühle, auf denen wir sitzen, einen Aschenbecher und zwei Tetra Paks Weißwein. Ich zünde die Zigarre an – der Rauch ist feiner, erreicht die Fassade nicht. Dennoch lenkt er meine Augen in Richtung tiefstehender Sonne, welche das Meer, ähnlich wie in einer kitschigen Romantikkomödie, in die verschiedensten Rottöne taucht. Eine dieser Farben könnten wir wahrscheinlich auch in den Gesichtern Rammsteins wiederfinden, wenn wir ihre Musik nicht nur im Hintergrund hören, sondern auch das dazugehörende Video sehen würden: „Sonne“. Doch der Blick auf die Straßen von Sorrent und auf das Meer ist interessanter – Was will man mehr?

von Lara Konrad

Ich sehe gespannt zu, wie der Boden immer näherkommt, bis das Flugzeug mit einem leichten Ruckeln aufsetzt. Einmal sicher gelandet, applaudieren die meisten Fluggäste. Ich muss grinsen - ach ja, Deutschland. Es ist seltsam, wieder hier zu sein, aber es ist ein gutes Seltsam. Es gibt einige Dinge, die man nicht wirklich erklären kann, Traditionen oder Umgangsweisen; Dinge, die man nur so richtig nachvollziehen kann, wenn man von hier ist. Und so traurig ich bin, all die anderen Länder und Kulturen, von denen ich einige mein zweites Zuhause nennen würde, hinter mir zu lassen, umso schöner ist es doch auch, nach Hause zu kommen - schließlich gibt es keinen anderen Ort wie Zuhause. Denn Zuhause ist meine Familie, und meine Freunde, all die Menschen, die mich am besten kennen; und das kann genauso schön sein wie jede Wahlheimat.
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