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Foto: Tassia Weimann |
von Tassia Weimann
Ich habe von dir geträumt. Du standst vor einem Gerichtsgebäude. Ich weiß nicht, ob der Ort so metaphorisch gemeint war, wie es sich aufdrängt. Aber hinter den großen, in Stein eingelassenen Glastüren standst du. Ich zögerte kurz, lies dann aber die Türen aufschwingen. Du warst damit beschäftigt in einem großen Kreis voller Leute zu stehen und dich zu unterhalten. Als ich vor dir stand, tratst du zur Seite, um dich mit mir unterhalten zu können. Ich deutete das als gutes Zeichen. Insgeheim wünschte ich mir, dass du wegen mir herkamst. Aber du warst hier, um dich mit einem Freund zu treffen. Du hättest alle Zelte in Peine abgerissen. Selbst deine Mutter würde jetzt nicht mehr hier wohnen. Eigentlich sollte dies keine Überraschung mehr für mich sein, mir keinen Stich versetzen. Es ist das, was du mir in Teilen in unserem letzten Gespräch gesagt hast. Deine Rechtfertigung dafür, dass du aus meinem Leben verschwunden bist und mir keinerlei Gelegenheit gabst, zu verstehen. Und dann stehe ich vor dem Gericht vor dir. Und fühle mich genauso wie damals. Klein, verletzt, unfähig etwas zu erwidern. Wie der Angeklagte, der nicht weiß, was ihm vorgeworfen wird. Obwohl ich doch mit dir abrechnen wollte.
Das Gefühl verschwindet nicht, als ich aufwache. Du
verschwindest nicht. Nie endgültig. Vielleicht langsam Stück für Stück. Und
hoffentlich nimmt die Zeit als erstes dieses Gefühl mit dir fort.
von Hannah Springer
Gehe immer auf der linken Seite der Straße. Dort stehen die
hohen Bäume und du kannst in ihrem Schatten gehen. Das fällt weniger auf. An
der Ecke vor der Bushaltestelle stehen Sarah und Maike. Wechsele die
Straßenseite. So störst du sie nicht beim Laufen. Schau nicht zu ihnen rüber.
Wenn du an der Bushaltestelle doch über die Schulter guckst und lächelst,
unterdrücke das Gefühl der Enttäuschung in deinem Bauch. Sie schauen dich nicht
an. Am Bushäuschen stehen fünf Jungs aus deiner Klasse. Stoppe und gehe schnell
zur Seite. Maike stürmt von hinten an und springt Tim in die Arme. Die beiden
küssen sich. Du schaffst es nie schnell genug zur Seite zu gehen. Wische dir
den Dreck von der Hose. Steh auf und versuch dich nicht noch einmal anrempeln
zu lassen. Das Gefühl im Bauch darf nicht stärker werden. Du musst dir jetzt
schnell beide Hände in den Bauch drücken. Das hilft. Steige als letztes in den
Bus ein. Der Platz vorne beim Fahrer ist frei. Setz dich und sinke tief auf den
Sitz. Dein Hinterkopf muss hinter der Lehne verschwinden. In der Schule gehst
du zunächst auf die Toilette. Die hintere Kabine links ist immer frei. Verlasse
sie erst wieder beim Gong. Betrete den Klassenraum zügig. Gehe direkt auf
deinen Platz. Schaue auf den Boden. Du musst den anderen ausweichen. Sie werden
es bei dir nicht tun. (Mittlerweile kannst du an ihren Füßen erkennen, wohin
sie wollen.) Am Platz sinkst du auf deinen Stuhl. Jetzt nicht bewegen. Bis zum
Pausenklingeln. Warte bis alle den Raum verlassen haben, dann renn zu deiner
Kabine. Nach der Schule verlässt du das Gebäude rasch. Am besten wartest du
hinter dem Raucherhäuschen auf den Bus. Im Sommer ist alles zugewuchert,
deswegen drücke dich soweit es geht in das Grün. (Pass auf den Mülleimer und
die Zigarettenstummel auf.) Halte die Luft an, um keinen Rauch zu atmen. Sobald
der Bus am Ende der Straße auftaucht, kannst du losrennen. Setz dich hinter den
Fahrer. Verschwinde. Zuhause fragt deine Mutter, wie dein Tag war. Antworte mit
„Schön“. Drücke deine Hände wieder in deinen Bauch. Deine Mutter soll sich
keine Sorgen machen. Lächele.
von Lara Konrad
Er sucht. Er sucht, doch da ist nichts, nur ein großes Nichts. Er schaut sie an und er sucht, und wieder findet er nur dieses Nichts. Vielleicht nicht Nichts, aber auf jeden Fall nicht das Etwas. Das Etwas, das ihn so lange begleitet hat, weswegen er immer an sie denken musste. Das Etwas, das seine Handflächen hat schwitzen lassen bei den ersten Begegnungen. Das Etwas, das ihren Geruch hatte; den Geruch, der jedes Mal in seinem Pullover hängengeblieben ist, wenn sie ihn umarmt hat und der ihm so vertraut ist. Das Etwas, das durch all ihre kleinen Eigenarten nur noch größer geworden ist. Das Etwas, das sich angefühlt hat wie Zuhause. Doch das Etwas ist dem nicht Nichts gewichen. Das Etwas ist verschwunden, und das Nichts tut weh.von Elina Göhrmann
Du sagst, ich bin nicht mehr da.
Da sei nur
leerer Raum, ein schwarzes Loch.
Du fragst:
Bist du dir noch nah?
Denn das
glaubt man kaum.
Glaubst du,
du kennst dich noch?
Du meinst,
du erkennst mich nicht mehr.
Es wurde
alles verschluckt.
Du hättest
selbst nachgeguckt.
Du bittest:
Komm wieder her.
Bin ich
wirklich verschwunden?
Oder hast du
mich wiedergefunden?
von Julius Lütgemeier
Sie weiß
nicht mehr genau, wann es angefangen hatte, aber irgendwann kamen einige nicht
mehr zurück. Das war erstmal nicht weiter verwunderlich gewesen. Ausfälle gab
es immer; das Leben war schließlich kein Honigschlecken. Es war nicht besonders
schlimm, ließ sich kompensieren. Bis es zu viele wurden.
Es mussten
immer hungrige Mäuler gestopft werden und sie wusste nicht, wie sie es dieses
Jahr schaffen sollten. Was denn plötzlich los war, musste sie sich fragen. Gab
es schwere Stürme? Neue, stärkere Feinde dort draußen? Wollten die anderen auf
eigene Faust losziehen? Wussten die nicht, was ihnen bei Hochverrat blühte? Das
sonst emsige Treiben im Palast, der Lärm, der Trubel, das Brummen, die Arbeit,
all das war nur noch eine langsam verfliegende Erinnerung. Zu wenige waren es
noch. Einzelne mühten sich noch ab, aber die Reserven reichten schon lange
nicht mehr für den nächsten Winter. Eine prachtvolle Stadt waren sie einst
gewesen, ein stolzes Volk. Nun waren sie nichts mehr. Sie war nichts mehr. Sie
war eine Königin, doch ihr Reich lag tot.
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