Dienstag, 30. Januar 2018

Printseite Januar 2018 / Verschwinden


 
Foto: Tassia Weimann

von Tassia Weimann 

Ich habe von dir geträumt. Du standst vor einem Gerichtsgebäude. Ich weiß nicht, ob der Ort so metaphorisch gemeint war, wie es sich aufdrängt. Aber hinter den großen, in Stein eingelassenen Glastüren standst du. Ich zögerte kurz, lies dann aber die Türen aufschwingen. Du warst damit beschäftigt in einem großen Kreis voller Leute zu stehen und dich zu unterhalten. Als ich vor dir stand, tratst du zur Seite, um dich mit mir unterhalten zu können. Ich deutete das als gutes Zeichen. Insgeheim wünschte ich mir, dass du wegen mir herkamst. Aber du warst hier, um dich mit einem Freund zu treffen. Du hättest alle Zelte in Peine abgerissen. Selbst deine Mutter würde jetzt nicht mehr hier wohnen. Eigentlich sollte dies keine Überraschung mehr für mich sein, mir keinen Stich versetzen. Es ist das, was du mir in Teilen in unserem letzten Gespräch gesagt hast. Deine Rechtfertigung dafür, dass du aus meinem Leben verschwunden bist und mir keinerlei Gelegenheit gabst, zu verstehen. Und dann stehe ich vor dem Gericht vor dir. Und fühle mich genauso wie damals. Klein, verletzt, unfähig etwas zu erwidern. Wie der Angeklagte, der nicht weiß, was ihm vorgeworfen wird. Obwohl ich doch mit dir abrechnen wollte.
Das Gefühl verschwindet nicht, als ich aufwache. Du verschwindest nicht. Nie endgültig. Vielleicht langsam Stück für Stück. Und hoffentlich nimmt die Zeit als erstes dieses Gefühl mit dir fort. 

von Hannah Springer 

Gehe immer auf der linken Seite der Straße. Dort stehen die hohen Bäume und du kannst in ihrem Schatten gehen. Das fällt weniger auf. An der Ecke vor der Bushaltestelle stehen Sarah und Maike. Wechsele die Straßenseite. So störst du sie nicht beim Laufen. Schau nicht zu ihnen rüber. Wenn du an der Bushaltestelle doch über die Schulter guckst und lächelst, unterdrücke das Gefühl der Enttäuschung in deinem Bauch. Sie schauen dich nicht an. Am Bushäuschen stehen fünf Jungs aus deiner Klasse. Stoppe und gehe schnell zur Seite. Maike stürmt von hinten an und springt Tim in die Arme. Die beiden küssen sich. Du schaffst es nie schnell genug zur Seite zu gehen. Wische dir den Dreck von der Hose. Steh auf und versuch dich nicht noch einmal anrempeln zu lassen. Das Gefühl im Bauch darf nicht stärker werden. Du musst dir jetzt schnell beide Hände in den Bauch drücken. Das hilft. Steige als letztes in den Bus ein. Der Platz vorne beim Fahrer ist frei. Setz dich und sinke tief auf den Sitz. Dein Hinterkopf muss hinter der Lehne verschwinden. In der Schule gehst du zunächst auf die Toilette. Die hintere Kabine links ist immer frei. Verlasse sie erst wieder beim Gong. Betrete den Klassenraum zügig. Gehe direkt auf deinen Platz. Schaue auf den Boden. Du musst den anderen ausweichen. Sie werden es bei dir nicht tun. (Mittlerweile kannst du an ihren Füßen erkennen, wohin sie wollen.) Am Platz sinkst du auf deinen Stuhl. Jetzt nicht bewegen. Bis zum Pausenklingeln. Warte bis alle den Raum verlassen haben, dann renn zu deiner Kabine. Nach der Schule verlässt du das Gebäude rasch. Am besten wartest du hinter dem Raucherhäuschen auf den Bus. Im Sommer ist alles zugewuchert, deswegen drücke dich soweit es geht in das Grün. (Pass auf den Mülleimer und die Zigarettenstummel auf.) Halte die Luft an, um keinen Rauch zu atmen. Sobald der Bus am Ende der Straße auftaucht, kannst du losrennen. Setz dich hinter den Fahrer. Verschwinde. Zuhause fragt deine Mutter, wie dein Tag war. Antworte mit „Schön“. Drücke deine Hände wieder in deinen Bauch. Deine Mutter soll sich keine Sorgen machen. Lächele.

von Lara Konrad 

Er sucht. Er sucht, doch da ist nichts, nur ein großes Nichts. Er schaut sie an und er sucht, und wieder findet er nur dieses Nichts. Vielleicht nicht Nichts, aber auf jeden Fall nicht das Etwas. Das Etwas, das ihn so lange begleitet hat, weswegen er immer an sie denken musste. Das Etwas, das seine Handflächen hat schwitzen lassen bei den ersten Begegnungen. Das Etwas, das ihren Geruch hatte; den Geruch, der jedes Mal in seinem Pullover hängengeblieben ist, wenn sie ihn umarmt hat und der ihm so vertraut ist. Das Etwas, das durch all ihre kleinen Eigenarten nur noch größer geworden ist. Das Etwas, das sich angefühlt hat wie Zuhause. Doch das Etwas ist dem nicht Nichts gewichen. Das Etwas ist verschwunden, und das Nichts tut weh.

von Elina Göhrmann 

Du sagst, ich bin nicht mehr da.
Da sei nur leerer Raum, ein schwarzes Loch.

Du fragst: Bist du dir noch nah?
Denn das glaubt man kaum.

Glaubst du, du kennst dich noch?

Du meinst, du erkennst mich nicht mehr.
Es wurde alles verschluckt.

Du hättest selbst nachgeguckt.

Du bittest: Komm wieder her.
Bin ich wirklich verschwunden?

Oder hast du mich wiedergefunden?



von Julius Lütgemeier 

Sie weiß nicht mehr genau, wann es angefangen hatte, aber irgendwann kamen einige nicht mehr zurück. Das war erstmal nicht weiter verwunderlich gewesen. Ausfälle gab es immer; das Leben war schließlich kein Honigschlecken. Es war nicht besonders schlimm, ließ sich kompensieren. Bis es zu viele wurden.  
Es mussten immer hungrige Mäuler gestopft werden und sie wusste nicht, wie sie es dieses Jahr schaffen sollten. Was denn plötzlich los war, musste sie sich fragen. Gab es schwere Stürme? Neue, stärkere Feinde dort draußen? Wollten die anderen auf eigene Faust losziehen? Wussten die nicht, was ihnen bei Hochverrat blühte? Das sonst emsige Treiben im Palast, der Lärm, der Trubel, das Brummen, die Arbeit, all das war nur noch eine langsam verfliegende Erinnerung. Zu wenige waren es noch. Einzelne mühten sich noch ab, aber die Reserven reichten schon lange nicht mehr für den nächsten Winter. Eine prachtvolle Stadt waren sie einst gewesen, ein stolzes Volk. Nun waren sie nichts mehr. Sie war nichts mehr. Sie war eine Königin, doch ihr Reich lag tot.
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