Donnerstag, 31. Januar 2019

Printseite Januar 2019 / Startschuss

Foto: Lizenzfreies Bild von Pixabay

 


von Lars Hybsz

Dunnerak steht als erstes am Tor. Es sind noch ein paar Minuten bis zum Start, aber der Stallbursche nestelt aufgeregt am Geschirr herum. Der Jockey spuckt auf den Sandstreifen neben der Rennbahn. Eine Frau im Publikum verzieht angeekelt das Gesicht und wendet sich ab. Mit ihrer riesigen Sonnenbrille sieht sie aus wie ein Insekt. Die Damen tragen Hut, möglichst teuer und möglichst auffällig, denn das Motto hier lautet: sehen und gesehen werden.
Nach und nach kommen auch die anderen Pferde zum Start. Sie heißen Diamant, Gandia, Bukephalos; ihre Besitzer sind Banken, Versicherungen, arabische Scheiche und deutsche Bundesliga-Profis. Die Zuschauer lockt nicht nur der Glamour, sondern auch der Rausch der Geschwindigkeit und die Schönheit der Tiere. Verletzt sich ein Pferd oder bricht sich gar das Bein, fangen die Mädchen auf der Tribüne an zu weinen, weil sie ganz genau wissen, worauf das hinauslaufen kann.
Eine hübsche Dame ist mit ihrem Neffen da. Sie hat sich extra einen Hut gekauft, aber einen günstigen. Sie setzt einen kleinen Schein auf einen Rappen aus Bremen und nippt an ihrem Sekt. Ob sie gewinnt ist ihr egal, es geht um das Erlebnis, das schöne Wetter und darum, sich über hochnäsige Leute lustig zu machen. Das Tor geht auf und der Rappe gewinnt.

von Yasemin Rittgerott

Draußen rieselt der erste Schnee des Winters leise auf die Erde herab und schluckt alle Geräusche. Es ist friedlich und still.
Drinnen ist die Situation angespannt. Es knallt. Ihre Handfläche bleibt flach vor ihm auf dem Tisch liegen, der vom harten Aufprall noch leicht vibriert. Das ist der Anfang vom Ende. Karl kann es in ihren Augen sehen. Der Startschuss für den Lauf ins Verderben.
"Du willst mir noch doch nicht ernsthaft erzählen, dass du noch glücklich bist in dieser Beziehung?!" Ungläubig sieht sie zu ihm runter. Doch, er war glücklich gewesen mit ihr. Bis vor wenigen Augenblicken hatte er geglaubt, sie sei es auch. Sie hatte es gut vor ihm verborgen, ihre Unzufriedenheit. Doch dann wollte er nicht mit ihr ausgehen – wieder einmal. Dabei war es draußen kalt und glatt. Es wäre doch einfach sicherer im Haus zu bleiben. Sie sah das anders. Sie sähe vieles anders, sagt sie. "Warum hast du nicht eher etwas gesagt?", fragt er. "Ich dachte, du müsstest es doch von selbst merken..." Das hat er aber nicht. Und nun hat sie beschlossen, dass es Zeit ist für ein Rennen, sie hat sich an die Startlinie gestellt, die Pistole abgefeuert und ist losgelaufen. Ihn lässt sie zurück.

von Tassia Weimann

Er sitzt vor dieser Leinwand und starrt auf die vier Quadrate, die parallel ihre Geschichte in flackernden Bildern erzählen:
Links, oben: Ein Hund, der abgeleint wird. Klick und Sprint.
Rechts, oben: Ein Junge mit einem Geschenk auf dem Schoß. Die Kamera wackelt, wird neu justiert. Der Junge wird kurz unscharf im Bild, dann scharf. Er blickt von der Kamera zum Paket. Und reißt es auf.
Unten, links: Ein Rabe auf einem Ast. Er zuckt mit dem Kopf nach links, hält inne und flattert davon.
Unten, rechts: Ein Mädchen in Großaufnahme. Fokus auf ihrem Gesicht. Plötzlich ein Stimmungswechsel. Tränen, die ihr von der Nasenspitze tropfen.
Er wendet den Blick von der Leinwand ab. Zu viel von allem: Aufbruch, Spannung, Impulse für einen Start nach Vorn.
Er schaut auf seine abgekauten Fingernägel. Das wollte er sich abgewöhnen. So wie er Neues ausprobieren wollte, raus gehen, nicht so viel sitzen und anderen beim Leben zuschauen. Er rutscht von einer Pobacke zur anderen. Morgen ist auch noch ein Tag. Das Polster ist gemütlich – nicht zu durchgesessen, nicht zu hart. Er sinkt tiefer hinein und wartet auf den Impuls in ihm selbst, der nicht kommen will.

von Katrin Dirscherl

Sie legte die alte Schallplatte auf, die sie seit Jahren besaß. Mittlerweile hatten sich ein paar Kratzer darauf gefunden. Der Ton klang abgenutzt, doch sie würde sie nicht wegschmeißen. Draußen schien die Januarsonne und sie blickte dem Eiffelturm entgegen. Wieder war ein Jahr vergangen, das Gefühl nicht anders geworden. Noch immer dachte sie an den Tanz zurück, an ihre Hand in der seinen.  Sie schloss die Augen, als die Sonnenstrahlen den Schnee auf dem Balkon zum Glitzern brachten und sie blendeten. Das neue Jahr hatte sie gefeiert, seinen Geburtstag. Viele würden noch folgen, viele Erinnerungen, die sie für ihn sammelte.
Die Schallplatte verstummte und die junge Frau sah sich um.
Die Einsamkeit fühlte sich besser an, irgendwie leichter. Sie stand auf und ging mit nackten Füßen auf den Balkon. Lehnte sich über das Geländer und reckte ihr Gesicht der Wärme entgegen. Die Friedenskonferenzen hatten sich monatelang über das letzte Jahr erstreckt und jetzt atmete sie tief durch. 
Alles wird besser werden, alles wird anders werden.
So wie jedes Jahr.

von Julius Lütgemeier

Er hatte heute früher Schluss.
Er machte heute Schluss.
Seine Mutter machte ihm gerade Essen.
Seine Mutter hatte ihm nie Essen gemacht.
Er saß gerade in seinem Zimmer.
Er ging gerade die Treppe hinauf.
Er griff sich den Controller.
Er griff in seine Tasche.
Ein wenig Spaß, dafür braucht man kein Geld.
Ein weißes Pulver, dafür brauchte er Geld.
Er war schon im Menü.
Er war schon in der Küche.
Er wartete auf seine Mutter.
Er stand hinter der Mutter.
Er drückte Start.
Schuss

von Elina Göhrmann

„Papa, was möchte die Bank mir mit diesem Brief sagen?“ – „Mama, was beinhaltet meine Krankenversicherung nochmal?“ – „Danke, dass ihr für mich noch die Miete übernehmt.“
Wichtige Unterlagen gehen noch an die Heimatadresse, bei großen Entscheidungen wird noch zum Telefon gegriffen und bevor Fachchinesisch nachgeschlagen wird, werden die Eltern gefragt. Noch stehen meine Füße bildlich gesehen unter ihrem Tisch.
Bis zur ersten Arbeit, zum ersten Geld, zur ersten selbstbezahlten Wohnung. Dazu muss ich inzwischen „bis bald“ sagen. Nur noch wenige Monate, bis ich ins neue Leben starte und an meinem eigenen Tisch sitze.
Wenn ich meine Listen schreibe, was ich alles noch meine Eltern fragen muss, welche Ausnahmen ich beim ersten Gehalt berücksichtigen muss, wo meine Bewerbungen hingehen könnten, dann mischt sich zu dem freudigen Gefühl auch ein mulmiges. Man will schließlich alles auf einmal und sofort richtig hinbekommen. Und doch weiß man nicht, ob man das schafft. Wenn mich dieses Gefühl in meiner Wohnung überkommt, dann schau ich auf das Familienfoto an der Wand. Und das beruhigt mich. Ja, es ist der Start in mein eigenes Leben. Aber meine Eltern werden immer da sein. Weiterhin Fragen darüber beantworten, wie ich eine Steuererklärung schreibe oder was ich bei einem Autokauf beachten muss. Wenn der Startschuss erklingt, wartet meine Familie an der Strecke auf mich. Wahrscheinlich bin ich nur deswegen bereit loszulaufen. Denn mit ihnen kann mir gar nichts passieren.

von Hannah Springer

Ich sitze vor einem riesigen Berg. Einem Berg voller aufzuräumender Ecken meines Zimmers, noch zu sortierender Unterlagen, Vorlesungen, die noch zusammengefasst werden müssen und Kontakte, die ich auch schon länger mal wieder pflegen wollte. Ein schöner Berg ist es. Wenn das Licht günstig fällt, wirft er einen Schatten an die Wand der aussieht wie ein Haus. Farblich sortiert ist er auch und um ihn herum ist es ganz ordentlich. Das habe ich alles schon erledigt. Schließlich sitze ich hier schon etwas länger.
Gestern habe ich rausgefunden wie man das nennt, mein Rumsitzen vor dem riesen Berg. Prokrastination: Das Aufschieben von Dingen, die gemacht werden müssen und stattdessen das Erledigen von Unwichtigem.
Ich sehe ein, dass die farbliche Sortierung nicht die größte Relevanz hatte, aber ich konnte das Chaos in Form des Berges vor mir einfach nicht mehr ertragen.
Natürlich weiß ich, dass trotz Sortierung der Berg keine Dauerlösung sein kann.
Allerdings war der einzige Tipp, den Google als Lösung gegen große Riesenberge ausgespuckt hat, einfach anzufangen. Ein ziemlich irrwitziger Tipp finde ich. Einfach anfangen, wie stellt sich Google das denn bitte vor? Soll ich etwa einfach so loslegen? So einfach ist das Ganze ja dann doch nicht.

von Lara Konrad

Ich bin gerannt und gerannt und gerannt, aber die Ziellinie ist noch lange nicht in Sicht.
Ich lege Pausen ein, und zwischendurch gehe ich.
Es gab eine Zeit, in der konnte ich nicht mehr. Aber nach langem Sitzen bin ich doch wieder aufgestanden, und weitergegangen. Langsam erst, dann immer schneller. Und ich renne wieder, und der Wind fegt mir um die Ohren, und die Zeit fliegt.
Seit 19 Jahren bin ich nun schon auf dem Weg, und mir erscheint das so lang, dabei ist es nur ein Bruchteil meiner Strecke. Manchmal höre ich neue Startschüsse - am 31. Dezember; nach der Schule; wenn ich aufhöre zu planen und anfange, zu machen. Und Dinge enden, und ich überschreite Linien, aber am Ziel bin ich noch lange nicht - denn ich weiß nicht, wo es liegt, und wann ich es erreiche, und ob ich es erreiche. Also renne und renne und renne ich weiter.


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