Freitag, 26. Oktober 2018

Printseite Oktober 2018 / Hochspannung

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von Leonie Backhaus

Ich bin eine Nummer von vielen. Mein Name? Interessiert keinen. Mechanisiert erledige ich meine Arbeit. Schnell, schneller am schnellsten. Maximale Effizienz steht an oberster Stelle. Alles wird genauestens geplant, nichts wird dem Zufall überlassen. Jeder Schritt, jede Bewegung wird verfolgt. Die Kameraaugen durchgehend auf mich gerichtet. Nichts bleibt ungesehen. Es fühlt sich an als ob ich unter Strom stehe. Kann nicht entspannen, nicht ruhen. Getrieben von dem Leistungsdruck arbeitet mein Körper auf Hochspannung. Wie ein Roboter durchlaufe ich jeden Tag den gleichen Arbeitsprozess. Müdigkeit macht sich breit und wird sofort verdrängt. Denn jeder Gedanke ist bereits dem nächsten Arbeitsschritt gewidmet. Jede Sekunde zählt. Ob ich es wohl in der vorgegebenen Zeit schaffe? Die Devise: Konformität statt Individualität. Standardisierung statt Abweichung. Kontrolle statt Freiheit. Rücksichtslosigkeit statt Fürsorge. Gegeneinander statt Miteinander. Doch ich arbeite weiter und weiter, getrieben von dem Strom der meinen Körper durchflutet und wünschte ich könnte den Stecker ziehen.

von Mette Springer

Nur noch wenige Sekunden. Ein kurzer Blick zur Seite. Alle haben den gleichen gespannten Gesichtsausdruck. Dann wieder schnell nach vorne.
 Ich will nichts verpassen. Ich will heute mein absolut Bestes geben. Ich habe lange  und hart trainiert, um jetzt hier zu sein. In dieser Stellung. Bequem ist wirklich etwas Anderes.
Mein Blick fällt auf meine Familie auf der Tribüne. All die Jahre haben sie mich begleitet, mit mir gekämpft, mich unterstützt. Ich will sie stolz machen.
„Konzentrier Dich“, sage ich mir. „Fokussier Dich.“ Es ist mein großer Tag.
Nur noch wenige Millisekunden. Ich spanne noch einmal alles an. Die ersten Kommandos kamen doch auch recht schnell hinter…Der Startschuss unterbricht meine Gedanken. Aus dem Startblock drücken. Es geht los.

von Hannah Springer

Du lächelst mich an. Deine Augen strahlen und deine Hand wandert langsam meinen Arm herauf. Es ist dieser Moment, den man sich vorstellt- wie im Film, eine Szene die perfekt gescriptet ist. Alles läuft. Beide Schauspieler haben ihren Text gelernt, geprobt was sie wann wie machen und liefern ab. Uns beiden ist klar worauf das hier hinauslaufen wird. Dass wir irgendwie doch mehr als Freunde sind und du meinen Arm nicht ausversehen berührst. Du streichst mir über die Wange. Wir wissen, was jetzt folgen soll, was die Szene für uns vorgesehen hat. Doch die nächste Zeile der Regieanweisungen steht wie eine Mauer zwischen uns. Ich kann deinen Atem hören, deine Berührung fühlen und doch sind wir in diesem Moment weiter auseinander als wir es wahrscheinlich jemals waren.

von Elina Göhrmann

Langsam lass ich mich gleiten und fixiere die entscheidende Ecke. Es muss klappen. Alle schauen zu. Mein Körper ist angespannt, jeder Muskel vibriert und ich muss mich angestrengt darauf konzentrieren, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Mir ist so warm, obwohl um mich herum alles eisig ist. Ich müsste mich nur einen Zentimeter weiter nach rechts lehnen und meinen Arm ausstrecken, um die Kälte zu berühren. Ich gleite weiter, werde immer schneller und wirbel umher. Etwa 30 Sekunden noch. Mein Blick gleitet wieder zur Ecke, die nun auf der gegenüberliegenden Seite ist. Mit einem letzten tiefen Atemzug sprinte ich los, verlasse mich ganz darauf, dass er in genau der Sekunde da ist, in der ich ankomme, spanne meine Muskeln an, versuche nicht daran zu denken, was passiert wenn er nicht da ist und setze zum kleinen Sprung an.
Und er ist da, fängt mich auf und hebt mich. Mein Körper ist gespannt, jeder Muskel vibriert und ich bilde eine perfekte gerade Linie über seinem Kopf, während er über die Eisfläche zum Takt der Musik gleitet. Die Figur ist gelungen. Tobender Applaus.

von Katrin Dirscherl

Ich stehe am Fenster und starre nach draußen. Meine Augen huschen ruhelos von einem Punkt zum andern. Da sind sie, die Leute. Wie sie entspannt die Straßen entlang schlendern. Als wären sie selbst ein Ruhepol. Als könnte sie nichts unterbrechen. Ich stehe nur da und starre. Ich komme mir blöd vor. Doch es scheint eine unbezwingbare Mauer zwischen mir und ‚da draußen‘ zu geben, die mich in der Wohnung hält. Ich bin angespannt. Nachts fühle ich mich frei. Nachts, wenn meine Adern nicht nervös durch meinen Körper zucken. Wenn nichts los ist und ich allein bin. Da draußen ist nichts, wovor du dich fürchten müsstest, sagt mein Verstand und eigentlich weiß ich es auch. Aber es ist noch nicht so weit in mein Bewusstsein vorgedrungen. Deshalb stehe ich am Fenster, balle meine Hände vor Wut über mich selbst zur Faust und knabbere an meiner Lippe.


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