Dienstag, 28. August 2018

Printseite August 2018 / Offenes Ende


Foto: lizenzfreies Bild von pixabay.com

von Elina Göhrmann

Mein Blatt ist vollgeschrieben. Auf hunderten von Seiten steht die Geschichte von Miranda der Hexe, die sich unsterblich in einen Ritter verliebt hat. Nun steht sie vor einem Tisch mit drei Flaschen und eine wird sie umbringen. Doch sie muss eine auswählen, weil sonst ihr Ritter stirbt. Das Problem: Ich weiß selber nicht, ob sie überleben soll. Es fällt mir schwer Happy Ends zu schreiben, aber Miranda ist mir ans Herz gewachsen. Sie einfach so sterben zu lassen, auch noch durch Gift, missfällt mir. Ich tippe ein paar Worte und lösche sie wieder. Seit Tagen endet die Geschichte in meinen Vorstellungen unterschiedlich: Mal erscheint das eine passend, dann das andere. Verzweifelt schreibe ich die Tatsache hin, die unumstößlich ist: „Sie trank.“. Dann betrachte ich wieder das Blatt und geh ins Bett. Vielleicht lass ich es einfach so.

von Jonas Gadomska

„Ich kann dich lesen wie ein Buch“, sagt eine kindliche Stimme mit einer enormen Bestimmtheit. Von Neugier gepackt, drehe ich mich um. Vor mir steht ein junges Mädchen, ihre Arme in die Hüfte gestemmt. „Wie kommst du darauf?“, frage ich sie irritiert. Es dauert einige Sekunden, bis sie antwortet: „Mein Opa hat mir immer vorgelesen und das zu mir gesagt! Du hast mir doch gestern auch vorgelesen und es nicht gesagt!“ „Dass man dich lesen kann wie ein Buch?“ Sie nickt. Aus meinem fragenden Blick entnimmt sie, dass ich nicht wirklich verstehe, wovon sie spricht. Sie holt aus. “Mein Opa mochte es, mir aus Büchern vorzulesen. Er wusste schon immer auf der ersten Seite, wie die Geschichte endet. Sogar bei den Geschichten, die einfach so aufhörten, wusste er immer wie es weitergeht!” Ich verstehe. “Er kann dich lesen wie ein Buch. Also bist du wie eine seiner Geschichten?”, frage ich. Sie neigt ihren Kopf, als wäre diese Position ideal, um die Frage verstehen zu können. Sie atmet tief ein, so als würde sie meine Frage beantworten wollen, bricht aber ab. Sie überlegt kurz und erklärt: “Mein Opa meinte immer, dass er in meiner eigenen Geschichte ein offenes Ende sieht!” Sie lächelt und geht spielen.

von Katrin Dirscherl

Auf einmal warst du einfach fort. Und für manche mag es scheinen, als wärst du nie gewesen. Als wärst du nur einer unter vielen. Umso stärker der Kontrast für die, die dich gekannt haben. Die wussten, dass du warst. Und wer du warst. Denn du warst immer. Zumindest bis zu diesem einen Tag. Und hätte man uns vorgewarnt, so wär’s nicht leichter gewesen. Du warst schon immer dankbar. Hast jeden Tag geschätzt. Hast deine Kinder geliebt. Und dein Mädchen sieht dich auch noch jetzt, auch wenn es dich nicht mehr gibt. An was hast du gedacht? Zog dein Leben an dir vorbei? Vermutlich hast du mehr geplant. Mehr für die Zeit. Mehr für ein Leben, als das dir blieb. Doch wer tut das nicht. Es scheint als wäre alles endlos. Als würden Stunden nie vergehen. Bis das Ende kommt. Ganz plötzlich. Und eigentlich gäb’s noch viel zu tun.

von Hannah Springer


„Was wollen Sie in Ihrem Leben erreichen? Wo soll für Sie die Reise hingehen?“, flötet eine äußerst freundliche Stimme in mein Ohr. „Woher soll ich das wissen?“, grummele ich zurück ins Telefon. Dumme Frage, schließlich hänge ich in der Leitung der Beratungsstelle Lebensreise, die das Bundeszukunftsministerium extra für Leute eingeführt hat, die sich über die Planung der nächsten Jahre unsicher sind. Eine Hotline Nummer, bei der ich über fünfundvierzig Minuten in der Warteschleife hing.
„Drücken Sie die 1, wenn Sie per Telefon über Ihren weiteren Lebensweg beraten wollen werden.“ Erst jetzt merke ich, dass diese äußerst freundliche Frauenstimme am anderen Ende der Leitung computergeneriert ist. Ich drücke die 1. „Beantworten Sie die folgenden Fragen ruhig und überlegt. Sie haben für die Beantwortung jeweils zehn Sekunden Zeit. Andernfalls müssen wir Sie leider aus unserer Leitung entfernen.“ Na super, in zehn Sekunden habe ich für meine Überlegungen ja reichlich Zeit. „Wollen Sie glücklich in Ihrem Leben sein, dann drücken Sie die 1.“ Was sind das denn für Fragen murmele ich, während mein Finger die Taste mit der 1 in den Hörer bohrt.
„Wollen Sie genug Geld verdienen, um Ihren jetzigen Lebensstandard zu halten, dann…“ „Wollen Sie in der Nähe Ihres jetzigen Wohnorts wohnen bleiben, dann..."
... „Vielen Dank für Ihre Antworten. Sie werden nun zu Ihrem Ergebnis weitergeleitet. Dies kann circa dreißig Sekunden dauern. Wir bitten um Ihre Geduld.“ Na endlich. Jetzt ertönt wieder die Warteschleifenmusik vom Anfang. Ich zähle in Gedanken die Sekunden bis zu meinem Ergebnis mit und passend zu dem Countdown in meinem Kopf wird die Musik immer dramatischer. Drei, Zwei, Eins. „Es gab ein Problem mit dem Netzwerk, versuchen Sie es später erneut. Tut, Tut, Tut“ Das ist keine Warteschleifenmusik mehr. Die Leitung ist unterbrochen. Dafür also dieses ewige Geklicke.

von Julius Lütgemeier

Wenn es regnete, ging er gern auf Friedhöfe. Er sah sich deshalb nicht wirklich als Freak, er mochte einfach Stille und diese war in solchen Momenten absolut. Er interessierte sich für die unterschiedlichen Namen und wurde immer ein bisschen traurig, wenn er mehrere gleiche an einem Ort fand, oder die Daten eng aneinander lagen. Diesmal war er schon eine halbe Stunde unterwegs- die einzige lebende Seele- die Ruhe nicht störend sondern aufnehmend. Bis er diesen Grabstein gefunden hatte, waren seine Sachen schon vollkommen durchnässt und er musste sich seine Haare aus dem Blick streichen, um die Schrift zu lesen. „Game over. 1€ für neues Spiel" stand über einem kleinen Münzschlitz in der Mitte. Was war das denn für ein makabrer Witz? Er suchte Anhaltspunkte für einen Scherz, aber er konnte keinen ausmachen; dieses Grab war echt. Die Oberfläche des Steins war schon durch das Wetter gezeichnet, die Blumen welk und er stand mitten in einer normalen Reihe anderer Gräber; nicht wie nachträglich dazugesetzt. Kein Name, kein Datum, stumpfer Granit. Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab, schaffte jedoch keine fünf Schritte, bevor er innehielt und sich wieder umdrehen musste. Manche Dinge lassen uns nicht los. Manchmal spürt man so ein ein leichtes Ziehen, doch etwas zu tun, das eigentlich sinnlos oder dumm ist, wie an einen Weidezaun zu fassen, nur um bestätigt zu werden, dass doch Strom drauf ist, nur weil die Reue, es nicht getan zu haben, schlimmer wäre. Wir mögen das Ungewisse nicht. Er kramte in seiner Hosentasche. Irgendwo musste er doch noch etwas Kleingeld haben.

von Lara Konrad

Ich starre mein Abendessen an und versuche, mich dazu zu bringen, die Gabel in die Hand zu nehmen, während sich mir bei dem bloßen Gedanken bereits der Magen umdreht. Es ist Salat, sage ich mir, nur Salat. Ein paar Tomaten und Karotten, und fünf Tropfen von dem fettreduzierten Dressing, was ist das schon? "Kalorien, und immer noch zu viel Fett" antwortet die ungebetene Stimme, die mich überall hinbegleitet. Ich nehme die Gabel, und lege sie direkt wieder weg. Mir ist schlecht. Schlecht von mir, schlecht von meinen Gedanken, schlecht von meiner eigenen Hilflosigkeit mir gegenüber. Wir leben in einem freien Land, sagen sie, in dem wir machen können, was wir wollen. Aber was, wenn man sich nicht von sich selbst befreien kann? Wir haben unser Leben selbst in der Hand, sagen sie, können unseren eigenen Weg gestalten und frei wählen, wo wir enden. Ich weiß, dass ich nicht hier enden will. Ich weiß, dass ich diese eine Chance bekommen habe, vor 21 langen Jahren, und das ist nicht das Ende, das ich mir aus all den Möglichkeiten aussuchen will. Morgen, denke ich, morgen gehe ich zum Arzt.

von Mette Springer


Wo Fang ich an,
wo geh ich hin,
wo ich auch steh, 
mir fehlt der Sinn.

Eine Entscheidung ist an sich nichts Schwieriges, trifft sie doch jeder tagtäglich. Mal bewusst und mal auch nicht. Fahre ich heute mit dem Bus oder nehme ich doch das Rad? Gibt es Kartoffelbrei oder doch eher den Salat? Fragen über Fragen. Teils ganz einfach, aber teilweise auch sehr kompliziert. Was soll ich tun? Stehen bleiben oder doch lieber nicht ausruhen? Ich weiß es nicht. Und so warte ich ab und überlege, während eine neue riesige Wand auf mich zukommt. Auch hier heißt es, sich zu entscheiden, das Gute zu sehen und das Schlechte zu meiden. Welcher ist der beste Weg? Die Schulzeit rückt Stück für Stück dem Ende zu, die Lehrer sagen: „Jetzt heißt es Du. Du musst dir Gedanken machen, Dich orientieren, um bestenfalls dein Leben nicht selbst zu torpedieren. Schau Dich um!“ Jedoch bin ich zu erschlagen von all den Optionen um mich herum. Kann sein, dass mich dieses gerade interessiert, während jenes sich heute nur schleppend studiert. Aber was wird morgen sein? Was wenn mir morgen eben jenes gefällt, während sich mir bei diesem alles Haar aufstellt? Wer weiß schon, was kommt. Und all die Stunden, die ich jetzt im Moment vergrüble, werden mir vielleicht letztendlich gar nichts nutzen, weil ich mich spontan entscheide, in England Heckenrosen zu stutzen. Es kann noch so viel passieren in meinem Leben, es kann sich so viel verändern.

Ich stehe vor einem aufgeschlagenen Buch und schaue die leeren Seiten an.

SHARE:

Keine Kommentare

Kommentar veröffentlichen

© Wortfluss Peine
Blogger Designs by pipdig